Liebe Gemeinde,

„Gott besucht uns öfter, aber meistens sind wir nicht zu Haus“. Über dieses afrikanische Sprichwort durfte ich in letzter Zeit immer wieder mal staunen. Irgendwann sah ich dann plötzlich eine meiner alten Schulklassen vor mir, die Kleinen, und der vorwitzige Dreikäsehoch in der ersten Bank ruft dazwischen: „Der hätte ja auch vorher mal anrufen können!“

Irgendwo hat das Kind ja recht, und wenn wir die Evangelientexte der Adventssonntage anschauen, dann finden wir dort sogar jede Menge Anrufe, Weckrufe. „Seid wachsam“, heißt es heute zum Beispiel. Das kann zunächst einmal irritieren; die meisten von uns, wenn sie in die Kirche gehen, erwarten dort nicht Beunruhigung und alarmierende Töne, sondern einen Ort und einen Moment, der sie zur Ruhe kommen lässt. Auch von einem schön intonierten „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ lassen wir uns nicht beunruhigen. Wenn wir die Kirchentür hinter uns schließen, wollen wir uns freuen, dass wir dem Trubel wenigstens für eine kleine Zeit entronnen sind und in Ruhe gelassen werden.

Stattdessen hören wir bei Matthäus, wie Jesus von Katastrophen apokalyptischen Ausmaßes redet, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die Sonne wird finster, der Mond verliert sein Licht, Sterne fallen vom Himmel. Das ist echt heftig. Greta Thunbergs Klimaszenarien: die Polkappen schmelzen, die Meeresspiegel steigen um zwei Meter in den nächsten hundert Jahren, Europa von Dürre bedroht – das wirkt dagegen wie Kinderkram. Ein gewisses Unwohlsein verspüre ich auch, wenn ich an die Auslegungsgeschichte dieses Textes denke. Evangelium heißt ‚Frohe Botschaft’ oder etwas nüchterner immerhin noch ‚Gute Nachricht’. Aus Jesu Reden vom Weltgericht hat man aber leider allzuoft eine Drohbotschaft gemacht.“Seid wachsam“ wurde verkürzt auf „Fürchtet euch“. Ich habe selber gruselige Erinnerungen: ich saß noch vorne in der Kinderbank, wie der Herr Pfarrer dieses „Ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“ als ein Donnerwort von der Kanzel herabschleuderte. Das war noch beängstigender als das „Der liebe Gott sieht alles!“, denn auch als Kind wusste man vom Sensenmann, der uns unversehens überraschen kann. Dies irae „Ach, was werd ich Armer sagen ...“

Sie sehen, es gibt da einiges aufzuräumen und ins rechte Licht zu stellen. Lassen Sie es uns versuchen, anstatt uns von diesem verstörenden Evangelium abzuwenden und die viel freundlicheren Lesungen von Jesaja oder Paulus vorzuziehen. Ich muss ein wenig ausholen.

Als Matthäus sein Evangelium niederschreibt, etwa zwei Generationen nach dem Tod Jesu, ist auch der Tempel in Jerusalem bis auf die Grundmauern zerstört. Für die Gemeinde des Matthäus war das schwer zu fassen; man litt darunter, dass Jesus noch nicht erschienen war, um den Tempel wieder aufzubauen. Stattdessen war die Zerstreuung des jüdischen Volkes weitergegangen. Viele fragten sich nun: Ist das unser tragisches Schicksal? Oder gibt es noch Hoffnung auf den Messias? Matthäus sammelt und überliefert deshalb Worte Jesu über das Reich Gottes, die er zu einer Botschaft verdichtet: Gebt nicht auf! Wartet auf das Kommen Jesu! Wir wissen nicht, wann es sein wird, aber es ist richtig, darauf zu warten und dafür zu beten. Zum Beispiel im Vaterunser, wo die Bitte ‚Dein Reich komme’ einen vorderen Rang einnimmt. So beten wir heute noch und hoffen, dass die Erde nicht von menschen- gemachtem Chaos zerstört wird. Im Denken der damaligen Zeit hatten sich zahllose Erfahrungen ungeheuren Leids, von Unterdrückung und Ohnmacht niedergeschlagen. Eine gerechte Welt war dann nur mit einem radikalen Neuanfang möglich. Am besten wäre es, so dachte man sich, Gott macht dieser ganzen Welt ein Ende und erschafft noch einmal eine neue. Apokalypse nannte man das, wenn Gott offen zeigt, was er vernichten und neu hervorbringen kann.

Wir können es vielleicht vergleichen mit einem alten Haus, wo es durchs Dach regnet, die Decken sich lösen, es durchs Fenster zieht, der Putz bröckelt, die Wasserleitung leckt, die Balken kaputt sind; da wird man nicht die Fassade richten oder neu tapezieren. Das alte Haus reißt man besser ab und baut ein neues. Und freut sich drauf. Natürlich ist es etwas Schreckliches, wenn eine Welt zusammenstürzt, oder nur wenn ein Haus zerstört wird ( das nur in Klammer: deshalb sprechen die Architekten beschönigend von „Rückbau“; die Zeitung aber schreibt „Abriss“ und zielt damit auf die hässliche Seite, weil die meist etwas zuverlässig Faszinierendes hat. So wie das Apokalyptische im Kino). Die Worte Jesu, wie Matthäus sie überliefert, sind also etwas ganz anderes als eine Anleitung für Alpträume, nämlich eine Ermutigung, an eine bessere Zukunft zu glauben, auf Gottes Welt hin zu leben. Keine Drohung, sondern – ganz frei von Ironie – ein Versprechen.

Wie passt nun ein solches Evangelium in unsere Gegenwart? Schonkost ist das gewiss nicht. Am Anfang des Kirchenjahres den Matthäus vom Ende her aufzuschlagen, ist schon etwas strange, wie die Jugend sagen würde. Sie kennen vielleicht die Redensart „es ist Matthäi am letzten!“, wenn es ganz furchtbar eng wird.

Aber ich meine, es macht Sinn, sich im Advent zu erinnern an solche Zukunftsbilder voller Angst, die in unsere Glaubenstradition eingegangen sind. Sie lenken unseren Blick zurück in die Gegenwart, auf Bilder von Bedrohung durch Krieg, Armut, Angst um die Heimat, Spaltung und Entfremdung von Völkern, Familien, Partnerschaften. Vor den Katastrophen der Welt, den großen wie den kleinen, sollen und können wir die Augen nicht verschließen.

Advent heißt also: wachsam sein und auf den Herrn warten, heißt auch Alarmbereitschaft – wenn der Herr kommt, will er eine lebendige Welt vorfinden, keine verlebte.
Advent ist Einkehr, Besinnung, zur Ruhe finden, in der die Stimme Gottes vernehmlich wird.
Advent ist, Gott einzulassen in unsere Welt, in unsere Städte, unsere Häuser. Seine Spuren wahrnehmen im Glanz der Kerzen, schmecken in den Düften unserer Kindheit, zu sehen in der Schönheit von Natur und Kunst, zu hören in der Harmonie der Musik.

Vergessen kann man die Welt nicht, und soll man als Christ auch nicht – es ist die Welt, in die Gott kommen will.
Ja – die Erinnerung an Gott mag uns die Welt neu sehen lassen.

Und seien wir gewiss:
Gott wird kommen – wann und wo und wie er will.
Drängeln geht nicht. Bremsen geht auch nicht.
Aber die Tür aufhalten – das können wir schon!

AMEN

(Wilfried Goretzki)