Liebe Gemeinde,

„Gott besucht uns öfter, aber meistens sind wir nicht zu Haus“. Über dieses afrikanische Sprichwort durfte ich in letzter Zeit immer wieder mal staunen. Irgendwann sah ich dann plötzlich eine meiner alten Schulklassen vor mir, die Kleinen, und der vorwitzige Dreikäsehoch in der ersten Bank ruft dazwischen: „Der hätte ja auch vorher mal anrufen können!“

Irgendwo hat das Kind ja recht, und wenn wir die Evangelientexte der Adventssonntage anschauen, dann finden wir dort sogar jede Menge Anrufe, Weckrufe. „Seid wachsam“, heißt es heute zum Beispiel. Das kann zunächst einmal irritieren; die meisten von uns, wenn sie in die Kirche gehen, erwarten dort nicht Beunruhigung und alarmierende Töne, sondern einen Ort und einen Moment, der sie zur Ruhe kommen lässt. Auch von einem schön intonierten „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ lassen wir uns nicht beunruhigen. Wenn wir die Kirchentür hinter uns schließen, wollen wir uns freuen, dass wir dem Trubel wenigstens für eine kleine Zeit entronnen sind und in Ruhe gelassen werden.

Stattdessen hören wir bei Matthäus, wie Jesus von Katastrophen apokalyptischen Ausmaßes redet, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die Sonne wird finster, der Mond verliert sein Licht, Sterne fallen vom Himmel. Das ist echt heftig. Greta Thunbergs Klimaszenarien: die Polkappen schmelzen, die Meeresspiegel steigen um zwei Meter in den nächsten hundert Jahren, Europa von Dürre bedroht – das wirkt dagegen wie Kinderkram. Ein gewisses Unwohlsein verspüre ich auch, wenn ich an die Auslegungsgeschichte dieses Textes denke. Evangelium heißt ‚Frohe Botschaft’ oder etwas nüchterner immerhin noch ‚Gute Nachricht’. Aus Jesu Reden vom Weltgericht hat man aber leider allzuoft eine Drohbotschaft gemacht.“Seid wachsam“ wurde verkürzt auf „Fürchtet euch“. Ich habe selber gruselige Erinnerungen: ich saß noch vorne in der Kinderbank, wie der Herr Pfarrer dieses „Ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“ als ein Donnerwort von der Kanzel herabschleuderte. Das war noch beängstigender als das „Der liebe Gott sieht alles!“, denn auch als Kind wusste man vom Sensenmann, der uns unversehens überraschen kann. Dies irae „Ach, was werd ich Armer sagen ...“

Sie sehen, es gibt da einiges aufzuräumen und ins rechte Licht zu stellen. Lassen Sie es uns versuchen, anstatt uns von diesem verstörenden Evangelium abzuwenden und die viel freundlicheren Lesungen von Jesaja oder Paulus vorzuziehen. Ich muss ein wenig ausholen.

Als Matthäus sein Evangelium niederschreibt, etwa zwei Generationen nach dem Tod Jesu, ist auch der Tempel in Jerusalem bis auf die Grundmauern zerstört. Für die Gemeinde des Matthäus war das schwer zu fassen; man litt darunter, dass Jesus noch nicht erschienen war, um den Tempel wieder aufzubauen. Stattdessen war die Zerstreuung des jüdischen Volkes weitergegangen. Viele fragten sich nun: Ist das unser tragisches Schicksal? Oder gibt es noch Hoffnung auf den Messias? Matthäus sammelt und überliefert deshalb Worte Jesu über das Reich Gottes, die er zu einer Botschaft verdichtet: Gebt nicht auf! Wartet auf das Kommen Jesu! Wir wissen nicht, wann es sein wird, aber es ist richtig, darauf zu warten und dafür zu beten. Zum Beispiel im Vaterunser, wo die Bitte ‚Dein Reich komme’ einen vorderen Rang einnimmt. So beten wir heute noch und hoffen, dass die Erde nicht von menschen- gemachtem Chaos zerstört wird. Im Denken der damaligen Zeit hatten sich zahllose Erfahrungen ungeheuren Leids, von Unterdrückung und Ohnmacht niedergeschlagen. Eine gerechte Welt war dann nur mit einem radikalen Neuanfang möglich. Am besten wäre es, so dachte man sich, Gott macht dieser ganzen Welt ein Ende und erschafft noch einmal eine neue. Apokalypse nannte man das, wenn Gott offen zeigt, was er vernichten und neu hervorbringen kann.

Wir können es vielleicht vergleichen mit einem alten Haus, wo es durchs Dach regnet, die Decken sich lösen, es durchs Fenster zieht, der Putz bröckelt, die Wasserleitung leckt, die Balken kaputt sind; da wird man nicht die Fassade richten oder neu tapezieren. Das alte Haus reißt man besser ab und baut ein neues. Und freut sich drauf. Natürlich ist es etwas Schreckliches, wenn eine Welt zusammenstürzt, oder nur wenn ein Haus zerstört wird ( das nur in Klammer: deshalb sprechen die Architekten beschönigend von „Rückbau“; die Zeitung aber schreibt „Abriss“ und zielt damit auf die hässliche Seite, weil die meist etwas zuverlässig Faszinierendes hat. So wie das Apokalyptische im Kino). Die Worte Jesu, wie Matthäus sie überliefert, sind also etwas ganz anderes als eine Anleitung für Alpträume, nämlich eine Ermutigung, an eine bessere Zukunft zu glauben, auf Gottes Welt hin zu leben. Keine Drohung, sondern – ganz frei von Ironie – ein Versprechen.

Wie passt nun ein solches Evangelium in unsere Gegenwart? Schonkost ist das gewiss nicht. Am Anfang des Kirchenjahres den Matthäus vom Ende her aufzuschlagen, ist schon etwas strange, wie die Jugend sagen würde. Sie kennen vielleicht die Redensart „es ist Matthäi am letzten!“, wenn es ganz furchtbar eng wird.

Aber ich meine, es macht Sinn, sich im Advent zu erinnern an solche Zukunftsbilder voller Angst, die in unsere Glaubenstradition eingegangen sind. Sie lenken unseren Blick zurück in die Gegenwart, auf Bilder von Bedrohung durch Krieg, Armut, Angst um die Heimat, Spaltung und Entfremdung von Völkern, Familien, Partnerschaften. Vor den Katastrophen der Welt, den großen wie den kleinen, sollen und können wir die Augen nicht verschließen.

Advent heißt also: wachsam sein und auf den Herrn warten, heißt auch Alarmbereitschaft – wenn der Herr kommt, will er eine lebendige Welt vorfinden, keine verlebte.
Advent ist Einkehr, Besinnung, zur Ruhe finden, in der die Stimme Gottes vernehmlich wird.
Advent ist, Gott einzulassen in unsere Welt, in unsere Städte, unsere Häuser. Seine Spuren wahrnehmen im Glanz der Kerzen, schmecken in den Düften unserer Kindheit, zu sehen in der Schönheit von Natur und Kunst, zu hören in der Harmonie der Musik.

Vergessen kann man die Welt nicht, und soll man als Christ auch nicht – es ist die Welt, in die Gott kommen will.
Ja – die Erinnerung an Gott mag uns die Welt neu sehen lassen.

Und seien wir gewiss:
Gott wird kommen – wann und wo und wie er will.
Drängeln geht nicht. Bremsen geht auch nicht.
Aber die Tür aufhalten – das können wir schon!

AMEN

(Wilfried Goretzki)

Lukas 1,26-38

Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazaret zu einer Jungfrau gesandt. Sie war mit einem Mann namens Josef verlobt, der aus dem Haus David stammte. Der Name der Jungfrau war Maria.

28 Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.
29 Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe.
30 Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden.
31 Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben.
32 Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben.
33 Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben.
34 Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?
35 Der Engel antwortete ihr: Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.
36 Siehe, auch Elisabet, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen; obwohl sie als unfruchtbar gilt, ist sie schon im sechsten Monat.
37 Denn für Gott ist nichts unmöglich.
38 Da sagte Maria: Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast. Danach verließ sie der Engel.

 

„Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“

Liebe Schwestern und Brüder aus unserer Seelsorgeeinheit – wie geht es ihnen, wenn dieser Gruß heute an Sie gerichtet wird? „Schwätz net so gschwolla drher!“ wäre wahrscheinlich spontan die erste Antwort, zumindest von schwäbischer Seite her. „Sei gegrüßt du Begnadete, du Begnadeter, der Herr ist mit dir!“ Vielleicht will derjenige, der mich so anspricht, ja was von mir? Erst Honig ums Maul schmieren – und dann was wollen – das kennen wir doch!

Genau so ging es dann ja auch in der Verkündigungsgeschichte weiter, die wir heute zu unserem Patrozinium gehört haben. Erst platzt da so ein Engel völlig überraschend herein – Heimsuchung im wahrsten Sinne des Wortes, dann diese hochwürdige Anrede, und – wie geahnt, dann will er auch noch tatsächlich was.

Dass Maria damals zunächst erschrocken ist, das ist ja verständlich. Mitten in ihrem Zuhause, mitten im Alltäglichen wird ihr das Wort Gottes verkündet – drei Ankündigungen macht ihr der Engel – Sie wird ein Kind empfangen – sie wird einen Sohn gebären – sie wird ihm den Namen Jesus geben. Dann weist der Engel noch auf die besondere Bedeutung, das Wesen und die Aufgabe des Kindes hin.

Maria ist verwirrt und fragt nach: Wie soll das geschehen? Der Engel Gabriel - auch dieser Name ist bedeutungsschwer: er - bedeutet: „Gott macht sich stark für sein Volk“ dieser Engel macht seinem Namen alle Ehre und spricht Maria Mut zu: „Fürchte Dich nicht“! Denn wo Gott ins Spiel kommt, da wird unsere Angst vertrieben, bei ihm ist nichts unmöglich. Wo Gott ins Spiel kommt, da geschieht so Großes! Vieles davon können wir bis heute mit unseren begrenzten Möglichkeiten immer noch nicht und vielleicht auch nie ganz fassen. Und so klärt auch Lukas das große Geheimnis der Begegnung zwischen Gott und Maria nicht auf – sondern er staunt über das Geschehen zwischen Gott und Mensch.

Lukas greift auf bekannte Bilder aus der biblischen Tradition zurück: Gottes Anwesenheit wird da oft mit dem Motiv des Schattens beschrieben. Der Schatten fällt auf Maria: Die Kraft des Höchsten stellt Maria aber nicht in den Schatten, sondern schafft neues Leben in ihr. Die Kraft des Heiligen Geistes und die Kraft des Wortes Gottes bewirken neues Leben, Veränderung, Verwandlung und Neubeginn. „Denn für Gott ist nichts unmöglich“ müsste eigentlich wörtlich übersetzt so lauten: „Kein Wort von Gott ist ohne Kraft“ – der Engel erinnert Maria an die Schöpfungsgeschichte: wo es ja immer wieder heißt und Gott sprach – und es wurde. (z.Bsp: Licht…) Gottes Wort bewirkt was es sagt! Mit ihrem „Ja, mir geschehe wie du es gesagt hast“ willigt Maria darin ein, dass Gottes Wort in ihr und an ihr wirksam wird. Maria gibt ihr Ja-Wort aus ihrem Zutrauen in das Geheimnis, das ihr durch die Liebe Gottes entgegenkommt – Der Herr ist mit dir – für Maria hat diese Zusage vollkommen gereicht um darin einzustimmen, Mutter des Messias zu werden. Diesem wird sie dann auch den Namen Jesus geben: der bedeutet: „Gott hilft“ oder auch: „Gott erlöst“. So wird in der Erwählung Mariens der ganze Heilsplan Gottes sichtbar.

Lukas beginnt sein Evangelium mit Erzählungen, in denen „kleine“ Menschen große Aufmerksamkeit erfahren, indem Gott an ihnen handelt. Nach Lukas hält Gott immer wieder solche Überraschungen bereit. und seine Heimsuchungen treffen völlig unerwartet ein. Unberechenbar ist dieser Gott, der die Kleinen groß und die Großen klein macht. Kraftvoll ist jedes Wort dieses Gottes. Wer es aufnimmt, annimmt und es an sich wirken lässt, an dem geschieht Großes, zum Heil von vielen Menschen.

So ist Maria auch heute das Vorbild für uns und für unsere Kirche. Ihr Mut ist bewundernswert, ihr Vertrauen ist nachahmenswert, beides bewirkt Wunder. Maria hört aktiv zu und sie empfängt, weil sie sich dem großen Geheimnis des Wortes Gottes öffnet.

Sich von Gottes kraftvollem Wort treffen lassen? Mit Gottes Überraschungen rechnen? Das fällt nicht immer leicht, vor allem dann, wenn Gott mit uns ganz andere Wege gehen will, wenn sein Wille so gar nicht in unsere Lebenspläne reinpasst, wenn sein Willen meinen Wünschen so sehr entgegen steht, dass ich schier verzweifle an der Frage – warum gerade mich das treffen muss!

Ein Blick auf Maria kann da Trost und Stärkung sein. Maria hat gegen alle Wahrscheinlichkeit geglaubt und sich ganz in die Hände Gottes begeben. Sie ist den Weg des „Ja“ ganz gegangen, hat durchgehalten bis zum Schluss! Auch in den Situationen, in denen sie ihren Sohn nicht verstanden hat oder er sich scheinbar von ihr distanzierte. Am Ende ging sie mit ihm bis unter das Kreuz.

Treue und Standhaftigkeit, diese Eigenschaften sind auch für uns wichtig, wenn wir uns auf Gott einlassen. Freilich war Maria besonders begnadet, aber auch wir sind von Gott ja begabt – eine jede und ein jeder zwar anders, aber eben auf ganz besondere Weise. Auch wenn Maria in der Kirchengeschichte immer wieder auf höhere Ebenen gehoben und mit besonderen Eigenschaften überhäuft wurde, kann sie für uns Mut und Ansporn sein. Maria will auch uns ermutigen, unsere eigene Berufung anzunehmen und zu leben.

Gott hat ja auch mit uns einen Plan! Kennen wir diesen Plan? Wollen wir ihn überhaupt wissen, oder sind wir so sehr in unsere eigenen Wünsche und Pläne hinein verstrickt, dass da überhaupt kein Platz mehr für Gottes Überraschungen ist? In den Texten der Hl. Schrift wird immer wieder deutlich, wie offen und bereit Maria für Gott war. Nicht als jungfräuliche und süße Göttin, sondern als Mensch. So ist Maria durch ihre Bereitschaft zur Hingabe an Gott zum Urbild der Kirche geworden.

Und das muss ja dann wohl auch Auswirkungen auf unser Verständnis von Kirche haben: Hierfür möchte ich heute am Patrozinium unserer Kirche und am Sonntag, wo unsere Seelsorgeeinheit zusammen Gottesdienst feiert, ein paar Punkte zum Nachdenken mit auf den Weg geben, denn die Zukunft unserer Kirche geht ja uns alle an!

Wenn wir unsere Kirche von Maria her sehen, dann müsste unsere Kirche vor allem zuhören, vertrauen, glauben und lieben können, wie es Maria getan hat. Sie müsste stärker vom Geist Gottes her leben. Eine Kirche, die Maria als Vorbild verehrt, darf ihre Seelsorge und ihren Pastoralplan nicht vorrangig am Erfolg ausrichten, sondern am Wesen des Evangeliums. Jesus ist ja zu allen Menschen gekommen, er hat zu Männern und Frauen gesprochen und ihnen zugetraut, am Reich Gottes mit zu bauen. Jede und jeden hat er berufen in seine Fußstapfen zu treten, den Menschen die frohe Botschaft zu verkünden, zu heilen und für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Papst Franziskus hat darauf ganz deutlich hingewiesen, als er bedauerte, dass die „Kirche“ jahrhundertlang eher einem Gerichtssaal geglichen habe und doch eher einem Feldlazarett gleichen solle, wo Menschen mit all ihren Brüchen und Verwundungen Heilung finden.

Eine Kirche, die Maria nicht nur als himmlische und süße Jungfrau verehrt, sondern sie als Vorbild nimmt, müsste mehr Vertrauen in die Zukunft und in die Wirkungen des heiligen Geistes haben, als weiterhin im Ist-Zustand zu versteinern. Bei Gott ist nichts unmöglich! Ich glaube, dass es heute nicht reicht, nur die Fenster zu öffnen, auch die Türen müssen geöffnet werden, damit auch sogenannte „Laien“ Zugang zu den Synoden, Konzilien und Ämtern unserer Kirche bekommen.

In dem Moment, als der Engel bei Maria eintritt, wird sie auf vielen Bildern als Betende dargestellt. Seit letzten Sonntag haben die deutschen Bischöfe den „synodalen Weg“ begonnen. Übersetzt heißt das „gemeinsamer Weg“! Wichtige Themen und Fragen unserer Zeit sollen besprochen werden. Auch Laien sind dazu eingeladen, jede und jeder kann sich sogar übers Internet an den Diskussionen und Abstimmungen beteiligen. Für mich ist das ein lange überfälliger Schritt, der ja schon im zweiten Vatikanischen Konzil angestoßen wurde.

Ich lade Sie herzlich ein, für ein gutes Gelingen dieses „gemeinsamen Weges“ zu beten. Wenn Sie wollen können sie nachher hinten auch eine Karte an unseren Bischof schreiben. Vielleicht schreiben Sie den gleichen Satz drauf, mit dem auch der Engel Gabriel Maria Mut gemacht hat: Fürchte Dich nicht! Das Leben Mariens ist der Beweis, dass Gott seine Welt nicht allein lässt, sondern immer neue Wege findet, zur Welt zu kommen. Allerdings braucht er auch heute Menschen, die sich von ihm ansprechen lassen und die auch bereit sind an seinem Reich mitzubauen. –

Seid begrüßt - ihr Begnadeten! -

AMEN

(Maria Lerke)

Liebe Gemeinden!

Dieses Fest heute lebt von den Bildern, lebt vom Staunen. Ich will dieses erstaunliche Geschehen nicht erklären. Das Geheimnisvolle an diesem biblischen Bericht lässt sich nicht auflösen. Ich will dieses erstaunliche Geschehen nur deuten, als etwas, das uns Wegweisung und Unterstützung gibt. Wenn etwas aufsteigt, spricht das unsere Sehnsucht an. Alles drängt nach oben. Oben ist das Heil und Unten ist das Elend. Ein Archetyp, der sämtliche Mythologien und Geschichten durchzieht. In unseren Träumen, in unseren Märchen überall suchen wir zu fliegen, suchen wir aufzusteigen, denn das Gute finden wir oben, auf dem Berg oder noch höher. Viele Mythen gibt es, in denen Menschen zum Olymp aufsteigen, zu Göttern erhoben werden. Es entspricht einer tiefen Sehnsucht in uns.

Das Geschehen an Himmelfahrt aber ist ganz anders. Himmelfahrt können wir nur im Zusammenhang mit Weihnachten und Ostern verstehen. Der, der da aufsteigt, ist der, der herabgestiegen ist. Der, der seine Macht aufgegeben hat, sich entäußert hat. Davon haben wir noch nie gehört. Davon träumt keiner, dass einer freiwillig hinabsteigt. Für uns Menschen ist es nur ein Alptraum, wenn wir stürzen, hinabfallen, hinuntersteigen. Himmelfahrt zeigt uns, dass Himmel und Erde verbunden sind. Dass Christus der Mittler, die Brücke ist zwischen Gott und Mensch. Und wenn es diese Brücke gibt, dann steht uns, jedem von uns der Himmel offen. Himmel hat nichts mit einer Flugreise zu tun. Das Wort Himmel bezeichnet das Ziel unserer Sehnsucht, den Ort, wo alles Gut ist. Fragen wir Kinder: Wo wohnt Gott: Sie antworten: Im Himmel. Die Antwort ist falsch, weil die Frage falsch ist. Wir müssen fragen: Wo ist der Himmel: Und die Antwort lautet: Der Himmel ist in Gott. Jede Brücke, die uns Gott näher bringt, bringt uns dem Himmel näher. - und dieser Himmel ist nicht nur oben, sondern auch um uns herum, mitten unter uns. - dieser Himmel ist nicht nur in der Zukunft, er war immer schon da und er erfüllt auch unsere Gegenwart, wenn wir ihn ergreifen. - Dieser Himmel ist nicht nur eine geistige Sache, er ist sinnlich erfahrbar und erlebbar, er ist für uns Menschen geschaffen, auch wenn wir ihn nicht begreifen und verstehen können.

Himmelfahrt, das sind viele Bilder, die eine unbeschreibliche Sache andeuten. Mit weniger als diesem Himmel sollen wir uns nicht zufrieden geben. Mit weniger als diesem Himmel, der größer ist als alles, was wir uns vorstellen können. Jesus stieg herab um wieder heimzukehren. Seine Auffahrt zum Himmel war wie eine Heimkehr. In der Heimkehr liegt die Vollendung. Das gilt für Christus. Das gilt auch für uns. "Du siehst mich" - ist die Losung des evangelischen Kirchentags in Berlin und Wittenberg, der gestern begann. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ Die Worte stammen aus dem 16. Kapitel des Buch Genesis. Hagar, die ägyptische Sklavin von Sarai, der kinderlosen Ehefrau Abrahams, lässt sich auf deren Geheiß von Abraham schwängern und wird anschließend so von ihr gedemütigt, dass sie flieht. An einer Wasserquelle in der Wüste trifft sie einen Engel, der sie zurückschickt, ihr aber zweierlei verheißt: Ihre Nachkommen werden zahlreich sein – was sonst in der Bibel nur Männern zugesprochen wird –, und ihr Sohn Ismael wird als freier Mensch im Land wohnen. „Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht“.

Wenn wir gesehen werden, dann verändert das unser ganzes Leben. Das Leben ist nicht mehr privat. Unser Leben wird zu einem Leben auf der Bühne. Für manche ist das erschreckend. Sie wären lieber isoliert in der Unbedeutendheit. Es wäre ihnen lieber, sie könnten sich ganz unbesehen ihrem Konsum und ihren Süchten widmen. Wir Menschen aber sind darauf angelegt geliebt zu werden. Und dazu gehört, dass wir gesehen werden. Einen Menschen mit Maske kann man nicht lieben oder eine Rüstung aus der nichts hervorschaut. Ein offener Himmel ist die Voraussetzung dafür, dass unsere ganze Welt, die Schöpfung Gottes in Liebe gehalten wird. Du siehst mich, das heißt der Himmel ist unser Publikum, diese Sichtweise verändert unser Verhalten entscheidend, jeden Tag und jede Stunde, die wir leben. Wenn ich angesichts des Himmels handle, dann bewahre ich die Schöpfung, die aus dem Himmel geschaffen wurde. Wenn ich angesichts des Himmels handle, dann ich es nicht wichtig, ob ich erwischt werde, wenn ich einem Menschen schade, durch Lüge oder Diebstahl. Am Ende steht das gerechte Gericht. Wenn ich angesichts des Himmels handle, dann denke ich nicht nur an die Zeit der Aufführung in diesem Menschenleben. Angesichts des Himmels denke ich an das Leben, das über meine Menschenzeit hinausgeht. Und dennoch gilt uns das Schriftwort: Schaut nicht zum Himmel. Es ist die Mahnung im Evangelium an Himmelfahrt. Schaut auf die Menschen um euch herum und handelt. Wir wollen diese Mahnung ernst nehmen in unseren Gemeinden die wir jetzt zum Gottesdienst versammelt sind..

Pfr. Gerald Warmuth

Liebe Gemeinde!

Pfingsten ist uns eingeprägt als Sprachenwunder. Eine tolle Show, ein tolles Spektakel. Eindrucksvoll ist es, wenn in allen Sprachen geredet wird, Feuerzungen durch die Luft fliegen. Mich beeindruckt heute etwas anderes mehr. Spektakel sind in unserer multimedialen Welt nicht mehr selten. Für mich ist Pfingsten auch ein Hörwunder. Die Jünger haben eine Botschaft wahrgenommen. In unserer Zeit finde ich das viel wichtiger. Wenn eine Botschaft sehr leise in der Stille gesprochen wird, ist es schwer sie zu verstehen. Schwerer aber ist es eine Botschaft zu verstehen, wenn rundherum Krach und Getöse ist, wenn tausende Botschaften auf einmal einstürmen. So erleb ich mich und meine Umgebung. Es ist schwer das herauszuhören, was Gott mir jetzt sagen will.

Eine gesunde Spiritualität braucht heute fast ein Hörwunder und eine Praxis, die das Hinhören fördert. Dabei meine ich nicht das äußerliche, akustische Hören, sondern das innere Wahrnehmen und Verstehen. Ein akustisch stiller Ort ist nicht genug, weil die Gedanken und Eindrücke nachschwingen. Ich habe vor drei Wochen eine Erfahrung des aktiven Hörens gemacht. Ich war auf einer Fußwallfahrt. Dabei kam ich Schritt für Schritt heraus aus dem Lärm in mir. Stunden lang, tagelang, nur Laufen, Singen, Beten. Bis ich ganz Fuß war. Und als ich ganz Fuß war- war ich auch ganz Ohr. Es ist ein Geheimnis der christlichen Meditation. Eine Sache zu tun, so intensiv, dass ich darüber alles andere vergesse. Nicht vielfältig sein ..einfältig werden. Und wenn ich ganz einfältig bin, wenn ich nur noch eine Sache tue-- und die ganz-- und wenn ich dann diese Sache auch noch aus dem Bewusstsein lasse.. sei es Singen, Laufen oder Arbeiten- wenn ich das dann auch noch loslassen kann- dann ist Stille in mir und in diese Stille kann die Botschaft eindringen wie in eine geöffnete Ohrmuschel. Erst wenn ich durch dieses Tor der Stille gegangen bin, erst dann kann ich mit Begeisterung reden. Alle, die noch nicht durch dieses Tor gegangen sind, alle die sind sogar gefährlich, weil ihre Botschaft nicht trägt, weil sie enttäuscht und am Ende Enttäuschung zurücklässt.

Arme hochkrempeln nützt nichts um unserer Kirche ein neues Pfingsten zu bereiten. Nur wenn wir uns anstecken lassen von flammender Gesundheit, wenn wir entbrennen mit einer Leidenschaft, die aus einer anderen Welt kommt, können wir der langsamen Beerdigung unserer Kirche begegnen. Wie damals 50 Tage nach der Auferstehung ist die Kirche heute am Anfang, weil sie immer am Anfang ist. Keiner Generation bleibt es erspart anzufangen, aber keiner Generation bleibt auch der Geist verwehrt, der uns entzündet, wenn wir uns darauf vorbereiten. Die Begegnung suchen und uns ansprechen lassen von dem, was wir Heilig nennen. Heiliger Geist. Misstrauen ist der größte Feind des Lebens. Vertrauen ist ein unersetzlicher Schatz. Und diesen Schatz können wir nicht herstellen. Er muss uns geschenkt werden. Vertrauen ist überlebensnotwendig. Ohne Vertrauen zerfällt die Menschengemeinschaft. Die Soziologen haben dies festgestellt und die Wirtschaftslenker wissen um diese Notwendigkeit.

Aber wie kann das Vertrauen unter den Menschen gestiftet werden? Ich bin immer wieder in der Tschechischen Republik. Gerade die postkommunistischen Gesellschaften Europas erkennen, dass Materialismus dieses Vertrauen eher zerstört, aber nicht aufbaut. So kann eine Gesellschaft nicht leben. Da ging es sogar unter dem Kommunismus besser, obwohl das Vertrauen da auch nur eine Illusion war. Als Christen wissen wir. Jedes Vertrauen von Mensch zu Mensch entspringt letztlich dem Gottvertrauen. Heiliger Geist – dieses unfassbare Wort- bezeichnet vor allem das, was wir Vertrauen nennen. Ein Vertrauen, das unsere Gesellschaft zum Leben braucht, wie die Natur die Sonne. Und doch gibt es ein großes Hindernis für uns. Wir sind übersättigt von Ersatzstoffen, so dass wir den Heiligen Geist nicht aufnehmen können. Jesus sagte zu den Jüngern: Der Friede sei mit euch. Die Menschen, die am Pfarrhaus klingeln, sagen mir: Den Frieden kannst du behalten, ich brauche Kohle, für Frieden kann ich mir nichts kaufen. Oder sie sagen mir. Ich brauche eine Wohnung. Mir wäre geholfen, wenn meine Ehe wieder ins Lot käme. Friede, was soll denn das sein. Aber Jesus sagte nicht, ich gebe euch Kraft oder ich gebe euch den Sieg. Er sagte auch nicht: Der Erfolg sei mit euch. Friede sagte er.

In einer mehr oder weniger zufriedenen Gesellschaft kann Jesus mit seinem Frieden nicht mehr landen. Muss es also erst Krieg geben? Muss also erst die Unzufriedenheit wachsen, dass es Pfingsten werden kann unter uns. Ich glaube wirklich, dass Pfingsten dort beginnt, wo Menschen unzufrieden sind. Dort wo sie in Angst leben. Und ich glaube, dass „wir“ nur zufrieden sind, weil wir betäubt sind. Betäubt von einem Polster auf dem Bankkonto. Betäubt durch die Zuversicht auf eine sichere Rente. Betäubt durch so viel Annehmlichkeiten. Vor lauter Betäubung haben wir unseren Hunger nach Leben vergessen. Leben aber ist mehr als Überleben. Das Pfingstfest zeigt uns einen Weg aus dieser Situation heraus. Die Jünger waren ängstlich, sie versteckten sich. Der Geist brach in ihren Bunker ein und lockte sie heraus. Die Situation unserer Kirche wird oft beklagt. Wir sind nur noch ein kleiner Haufen, von vielen verlacht. Wir sind nicht zufrieden. Wir sind hungrig. Aber ist das schlimm? Ist das nicht gerade die Voraussetzung? Alle Betäubungsmittel sind abgesetzt. Selbstgefälligkeit, Triumphalismus, Eitelkeit, nichts von dem bremst uns mehr. Wir sind hungrig. Was für eine Landebahn für den Heiligen Geist. Aus kleinen zerknirschten Gruppen kann oft mehr entstehen als aus großen. Das zeigt uns Pfingsten. Nur eines ist dabei Voraussetzung. Grenzenlose Offenheit auf fremde Sprachen und fremde Menschen hin. Offene Menschen und offene Gemeinden sind die beste Landebahn für den Heiligen Geist, den Geist, der Frieden und Vertrauen schafft- durch uns -. Amen

 

Pfr. Gerald Warmuth

Liebe Gemeinden!

Fronleichnam ist für viele nur ein volkstümlicher Brauch, ähnlich der Fasnet. Vor allem der Blumenteppich prägt sich ein. Worum es wirklich geht, können wir nur verstehen, wenn wir daran glauben, dass dieses Brot, das wir in Jesus Namen brechen, Gottes Sohn selbst ist, der sich uns hingibt, weil er uns liebt. In dem Wunder, von dem wir gehört haben, ist es leichter zu glauben. Menschen waren hungrig, Menschen wurden satt. Erfahrung überzeugt. Wer das erlebt hat, der vertraut auf Jesus, der verliert seine Lebensangst, der freut sich des Lebens, der wird dankbar und zufrieden.

Viele fragen sich: was bringt es, dass wir glauben, dass dieses Brot kein gewöhnliches totes Brot ist, sondern der lebendige Leib Christi, den wir verehren.

Was bringt es, das ist eine typische Frage unserer Zeit und wir müssen darauf Antwort geben, so wie unsere Zeit sie braucht.

Was bringt es zu glauben? Es lohnt sich, den Glauben zu leben! Glauben schafft Vertrauen - bei mir und bei anderen. Glauben gibt Halt- mir und der Gemeinschaft. Glauben gibt Orientierung und erschließt Sinn. Glaube nimmt die Lebensangst und befreit. Und Glaube setzt Freude frei. Diese Freude kann uns tragen und halten, sie lässt uns etwas aushalten. Wie sich die hungernden Menschen von den satten unterscheiden, so sehr unterscheiden sich auch Menschen ohne Glauben von gläubigen Menschen. Wer dieses Wunder des Glaubens erlebt hat, der ist überzeugt und hält fest an diesem Vertrauen. Dieses Vertrauen, das Freude schafft, wird von vielen gefordert.

Vor allem konservative Politiker sagen, die Kirche soll nicht so viel kritisieren, sondern Positives verkünden. Schließlich verkünden wir die frohe Botschaft. Diese frohe Botschaft, die uns Menschen dankbar macht und mit Freude erfüllt, genau das braucht unser Land. So leicht geht es aber nicht. Einfach ein Lächeln aufsetzen und 'bin so froh' singen, kann echten Glauben nicht ersetzen und nicht das Vertrauen in uns schaffen, das unser Leben wirklich verwandelt. Wenn ich einen Menschen im Krankenhaus besuche, von dem der Arzt sagt, er werde bald sterben, dann kann ich diesem Menschen nicht auf die Schultern klopfen und sagen: Sie werden hundert Jahre alt. Wenn ich das täte, wäre ich ein schlechter Seelsorger und unglaubwürdig.

Echte Seelsorge ist der Wahrheit verpflichtet, auch wenn sie schwer zu ertragen ist. Echte Seelsorge geht nicht den bequemen Weg, sondern den schweren. Echte Seelsorge verschweigt den Tod nicht und hält die Ohnmacht des Lebens aus. Und trotzdem ist diese Seelsorge besser als jede Narkose, jede Ablenkung, jede Droge. Wenn wir auf das Brot, den Leib Christi schauen, dann schauen wir auf den, der für uns gestorben ist Auf den, der gelitten hat für uns. Das Warum dieses Todes bleibt ein Geheimnis, ein Mysterium. Aber genau dieses Geheimnis ist das Wunder, das unser Leben verändert und vertrauen in uns wachsen lässt. Vertrauen, das alle Fesseln sprengen und alle Angst wegblasen kann. Wenn wir nicht nur mit dem Kopf dieses Geheimnis für wahr halten, sondern es mit dem Herzen annehmen, mit Augen, Mund und Händen daran teilnehmen, werden wir verwandelt, Stück für Stück, werden wir neue Menschen.

Wenn wir das nicht alleine tun, sondern wie jetzt in Gemeinschaft, dann hilft uns das dabei, dass dieses Vertrauen nicht flüchtig ist, sondern ein solider Teil unseres Lebens wird. Kollektiver Glaube bewirkt kollektives Vertrauen und kollektive Freude. Der Glaube an das Geheimnis dieses Tages bringt uns etwas, das weiß jeder, der zurückschaut auf ein Leben in diesem Glauben. Ich erlebe es immer wieder, wenn ich einen sterbenden Menschen begleite, dessen Leben von diesem Vertrauen geprägt war. Er ist wie ein Jünger, der bei der Speisung Jesu dabei war. Was er erlebt hat, bleibt ein geheimnisvolles Wunder, das Ergebnis dieses Wunders aber, das Vertrauen, das die Angst nimmt und Freude bewirkt, das Ergebnis ist deutlich sichtbar.

Für alle, die auf dem Weg sind, bei denen dieser Glaube noch nicht beständig ist und die noch nicht erfüllt sind von Vertrauen und Lebensfreude, für die gehen wir an Fronleichnam an die Öffentlichkeit. Wir geben Zeugnis. Es ist wie eine Demonstration . Eine Demonstration, die nicht unseren Glauben stärken soll und uns bereichern soll. Eine Demonstration, die andere an Vertrauen und Dankbarkeit bereichern soll. Nicht wie die Angebote der Werbung, die auf Illusion und Schönfärberei vertrauen. Unsere Demonstration versteckt Tod, Leiden Ohnmacht und Schuld nicht. Die Wahrheit braucht nicht versteckt zu werden, weil Christus die Welt, wie sie ist, angenommen und durch seine Liebe erlöst hat. Unsere Demonstration ist eine Absage an jede Form von Droge und Weltflucht. Wir brauchen der Realität nicht zu fliehen, weil sie von Christus durchdrungen ist, wie das Brot, das wir brechen und durch die Straßen tragen. Wir ertragen uns selbst unsere Kirchengemeinde mit unserer Schwachheit und Schuld.

Vertrauen wächst im Blick auf dieses Brot. Vertrauen zu IHM und Vertrauen zu uns, Dankbarkeit und Freude. Heute gehen wir also auf die Straße. Es ist nicht nur eine Demonstration, mehr noch es ist wie ein Aufstand. Ein Aufstand wogegen? Fronleichnam ist ein Aufstand dagegen, dass unser Glaube so wenig mit unserem Leben zu tun hat. Fronleichnam ist ein Aufstand dagegen, dass unser Glaube nur im Kopf existiert. Heute glauben wir nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Augen- -wir sehen das Brot- heute beten wir nicht nur mit den Lippen- sondern auch mit den Augen und den Füßen. Fronleichnam ist ein erster Schritt heraus aus einem belanglosen Feierabendglauben.

Ein erster Schritt auf dem Weg zu einem vitalen christlichen Glauben. Was wir suchen ist ein vitales Christentum. Ein vitales Christentum ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass nichts, was mein Leben ausmacht, versteckt oder amputiert werden muss. Wir Menschen sind nicht nur Geist und Verstand. Wir haben einen Körper, einen Leib. Für diesen Leib und seine Bedürfnisse muss im Christentum ein Platz sein. Auch für die Sinne, für Musik und Tanz, für Geschmack und Schönheit. Platz muss sein für Leidenschaft. Wer Leidenschaft verdrängt, wie soll der Gott leidenschaftlich lieben? Ein Platz muss sein für Zärtlichkeit! Wer Zärtlichkeit verdrängt, wie soll der Gott innig lieben? Platz muss auch sein für Zorn und Klage, ein Platz für das Streiten! Wer nur vor Respekt erstarrt, der bleibt im Hass, wie soll der sich versöhnen? Ein Platz muss sein für Trauern und Weinen! Wer nicht mehr weinen kann, wie soll der mitfühlen mit den Schwestern und Brüdern? Das alles gehört für mich zu einem vitalen Christentum. Ein Christ-sein mit Blut, Schweiß und Tränen, mit Lachen, Tanzen und Singen.

Wenn das Christentum in unserem Land nicht völlig verschwinden soll, dann muss es mehr und mehr ein vitales, sinnliches Glauben werden. Ein Christentum als reine Idee, oder als Sonntagsbeschäftigung wird bald ins Museum gehören. Das Christentum dieses frischen Jahrhunderts ist wieder vital und sinnlich. Wertschätzung ist eines der leitenden Haltungen in dem Wandlungsprozess, der in unserer Diözese angesagt ist. Wenn wir heute ins Freie gehen, dann zeigen wir, dann demonstrieren wir, dass wir die Welt auch die Welt außerhalb unserer Kirche wertschätzen und ihr mit Liebe begegnen. Wir bringen auch dem, was uns fremd ist, unsere Liebe entgegen, weil wir alles als Schöpfung Gottes verstehen. Wir glauben an Gott und wir schätzen auch die, die sich Atheisten nennen. Ihre Kritik hilft dabei, nicht selbstzufrieden auf einem hohen Ross unseren Glauben in der Tasche zu haben. Durch Kritik müssen wir einen falschen Glauben an Gott immer wieder neu aufbauen und einen alten Wahn aufgeben. Wir können Atheisten wie ein Geschenk annehmen, weil sie uns herausfordern, immer festeren Grund für den Glauben an Gott zu finden.

Wieviel haben wir Katholiken aus der Ökumene gelernt? Im Miteinander der Konfessionen sind wir alle gewachsen. Wenn wir heute in Winnenden und Leutenbach auf die Straße, in die Öffentlichkeit gehen, dann treffen wir aber nicht nur Schwestern und Brüder in der Ökumene, wir treffen nicht nur Atheisten, die wir als Kritiker brauchen. Wir treffen auf viele Menschen, die ich als Apathisten bezeichnen würde. Ihnen ist die Frage nach Gott egal. Ich glaube, diese Menschen brauchen unsere Demonstration. Ich glaube, die meisten merken nicht, wer sich heimlich auf den Thron gesetzt, dem sie Gott nicht geben wollen. Sie merken oft gar nicht, welche primitiven Götzen sie beherrschen.

Jetzt ist diese Vitalität noch durch zwei Dinge stark beschnitten. Erstens die Verteufelung der Sexualität. Zwar ist sie in der offiziellen Lehre bereits zurückgenommen, sie steckt aber noch in den Köpfen so vieler Christen, katholisch wie evangelisch. Die Kraft des Glaubens war einst auf Angst aufgebaut. Eine schlimme Verirrung. Die Kraft für den Glauben muss aus der Lust und aus der Liebe strömen. Eine Liebe zur ganzen Welt, in der nichts verteufelt werden muss. Daran krankt unsere kirchliche Gemeinschaft, dass wir uns zu oft der Welt wie sie ist entgegenstellen und sie verteufeln. Wir brauchen nicht alles annehmen und nachmachen, was es gibt, aber wir können alles in Liebe betrachten, bestaunen und wertschätzen. Darin ist uns Papst Franziskus ein Vorbild.

Eine fatale Beschneidung des Glaubens ist die unbedingte politische Abstinenz die sich unsere Kirche in Deutschland auferlegt hat. Ein christlicher Glaube, der sich von vornherein politisch neutral verhält, der verbietet sich jegliches Handeln. Ein Mensch aber, der nicht handelt, der träumt oder ist tot. Lebendiges Christentum kann auf das Handeln nicht verzichten, auch wenn Handeln bedeutet, dass man Fehler machen kann. Handeln heißt sich auf den Weg machen. Fehler zu korrigieren, nicht nur vom Ziel zu träumen, sondern den Weg zu gehen. Ein solcher Glaube, ein Glaube, der Weg ist, ein solcher Glaube ist beides: Mühsam und spannend leidvoll und lustvoll, vergeblich und lohnend.

Fronleichnam ist der Aufbruch, der Aufstand gegen den leblosen Glauben Wir schauen den Leib des Herrn, er ist zum Anfassen nahe und wir machen uns auf den Weg: Wie einst Abraham in Chaldäa, wie einst Israel aus der Sklaverei Ägyptens, wie einst die Kirche an Pfingsten. Aufstand gegen den Tod. Unser Schritt heraus aus der Kirche heute ist nur ein Symbol: Wir fangen an selbst zu denken, selbst zu handeln, wir brechen auf in unserem Leben. Ein paar wenige Schritte. Aber schon mit einem Zentimeter kann eine Lawine losbrechen. Eine Lawine, die nicht zerstört, nein, eine Lawine, die den Weg frei räumt. Amen.

Pfr. Gerald Warmuth