Liebe Gemeinde!

Die sogenannten Abschiedsreden Jesu, die Johannes uns überliefert hat, klingen zunächst etwas wirr. Es scheint dass Jesus mehr mit sich selbst redet als zu den Jüngern. Was wir heute gehört haben ist ein Gebet und keine Rede. Dieses Gebet zeigt uns die Gedanken aber auch die Gefühle des Jesus von Nazareth. In diesem Gebet erleben wir nicht einen strahlenden Triumphator, der seinen Weg zügig geht. Wir erleben einen Menschen mit Angst und voller Mitgefühl für die Zurückbleibenden. Wir erleben einen Menschen der sich bittend einsetzt für andere.

Um zwei Dinge bittet er für die Menschen: Heilige sie in der Wahrheit! Bewahre sie, damit sie eins sind wie wir! In dieser Bitte um Einheit, liegt das eigentliche Vermächtnis diese Abschiedsgebetes. Uns wird ein Auftrag erteilt: Seid eins, wie der Vater und ich eins sind. Dieser Auftrag Jesu, gegeben vor fast 2000 Jahren ist ein zeitloser Auftrag.

Die Geschichte und die Beobachtung des Menschen lehren uns, dass diesem Auftrag immer wieder eine andere Kraft entgegensteht. Menschengruppen und einzelne Menschen grenzen sich immer wieder selbst aus und sondern sich ab. In Familien, Vereinen und Staaten entsteht Streit und Spaltung. Die Wurzeln dafür sind Gier, Eifersucht, Hass oder einfach Desinteresse.

Der Aufruf zur Einheit fordert uns. Wir sollen uns immer wieder neu anstrengen all das zu überwinden, was uns trennt. Über die Trennung in reich und Arm und über die Überwindung eines solchen Grabens reden viele tausend Christen in diesen Tagen in Münster beim Katholikentag. Uns verpflichtet sein Wort: 'Suchet den Frieden', uns alle, die wir uns nach diesem Christus nennen.

Wie revolutionär das ist, merken wir, wenn wir auf das schauen, was seit Urzeit die Menschen verbindet. Nicht das Wort, sondern das Blut. Es ist die Abstammung, die seit Jahrtausenden bestimmt, wer dazugehört und wer nicht. Ausgedehnt wurde diese Verbindung auf die Großfamilie, das Volk und die Rasse. Eines musste immer bleiben. Es gibt immer auch die anderen, die, die jenseits dieser Grenze sind, die, die nicht dazugehören. Diese Grenzen sind heute meist völlig künstlich. Ob einer für den VfB ist oder für Bayern, ob einer CDU wählt oder SPD. Ob einer einen deutschen Stempel im Pass hat oder einen anderen. Die meisten Verbindungen halten nur durch einen Gegner oder ein Feindbild zusammen. Die Verhaltensforscher bestätigen diese Beobachtung und manche Politiker hegen ein Feindbild als politisches Mittel zur Festigung der Gemeinschaft.

Uns verbindet das Wort und der Auftrag Jesu: Der Anspruch der Heiligen Schrift stellt sich der Anthropologie entgegen. Paulus erklärt im Kolosserbrief, dass es dort, wo der Mensch nach dem Bild Gottes erneuert wird, weder Griechen noch Juden, Beschnittene noch Unbeschnittene, weder Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie gibt, sondern Christus alles in allem ist. Jesus hat eine neue Zeit begonnen und eine neue Art der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit unter den Menschen begründet. Auf vielfache Weise versucht er die blutsmäßige Zusammengehörigkeit der Menschen auszuweiten.

Eine neue Zeit, mit der auch das Zeitalter der Ideologien begann. Uns verbindet eine Idee: So könnte man die Grundlage für den Ost-West Konflikt beschreiben, der die Spaltung in Europa vertieft hat . Kapitalismus und Kommunismus. Nationalismus und Rassismus. Eine Idee ist eben noch nicht das Wort Gottes. Eine Idee allein wird auch das neue Europa nicht nachhaltig verbinden. Nur dieses Wort Gottes, die Wahrheit, verbindet Menschen, ohne sie zu Sklaven der Einheit werden zu lassen. Kapitalismus als Einheitswort kann nicht die Lösung sein. Das Einheitswort heißt Versöhnung: Wie Gott der Vater und der Sohn eins sind, so sollen wir eins werden. Wir sollen einander Söhne und Töchter werden. Die alte Blutsverwandtschaft ist das Bild eines geistlichen Vorgangs. Diese Versöhnung geschieht dann nicht, weil es ein Präsident oder Bischof angeordnet hat. Nicht, weil es uns einen Vorteil bringt, nicht weil es unsere patriotische Pflicht ist. Versöhnung geschieht einfach aus dem Grund, dass wir zusammengehören, dass wir verwandt sind, dass wir einander in Liebe verbunden sind.

An (Pfingsten) sammeln wir Geld für die Schwesterkirchen in Osteuropa. Das allein genügt nicht. Versöhnung heißt nicht nur Almosen geben. Versöhnung heißt dauerhaftes und echtes Interesse für die Lebenswirklichkeit der Partner. Versöhnung heißt Anteil nehmen und Anteil geben am eigenen Leben. Versöhnung heißt immer auch sich selbst zu verändern. wenn Jesus sagt: Seid einmütig, seid eins. Dann sagt er nicht: Lasst alles beim alten, fangt keinen Streit an und ändert nichts. Im Gegenteil: Jesus ruft uns auf, uns zu versöhnen, uns zu verändern, anderen Anteil zu geben an unserem Leben und davon niemanden auszuschließen. Was Jesus sagt, ist nur auf den ersten Blick konservativ und beruhigend. Was Jesus sagt, ist vielmehr revolutionär und abenteuerlich. Er ruft Menschen auf, Vater und Mutter zu verlassen wie einst Abraham. Er ruft sie auf die Treue und Traditionen zu brechen, wie den jungen Mann, der zuerst seinen Vater beerdigen will. Seid eins, wie der Vater und ich eins sind, das ist keine ängstliche Beschwichtigung. Es ist eine unerhörte Aufforderung über den eigenen Schatten zu springen und neu, ganz neu zu werden. das gilt für die Ökumene, das gilt für Europa, das gilt für unsere Gemeinden in der Seelsorgeeinheit, das gilt für die verschiedenen Generationen und Gruppen in unserer Gemeinde, das gilt für unsere Familien. Amen.

Pfr. Gerald Warmuth